Freie Musik als gezielte Grenzüberschreitung
Welche Wirkung improvisierte Musik heute noch haben kann, mag ein kleines Beispiel aus Spanien belegen. Dort hat – laut einem Bericht in der Süddeutschen Zeitung vom
Dezember 2009 – im vorigen Jahr ein Konzertbesucher die Guardia Civil gerufen, weil er beim Konzert nicht den erwarteten Jazz, sondern etwas Anderes zu hören bekommen hatte, das er nicht unter
Jazz einordnen mochte.
Was war passiert? Gespielt hatte bei einem kleinen Jazzfestival in Sigüenza in Kastilien Larry Ochs mit seiner Band „Sax & Drumming Core“, und hatte den armen
Mann offenbar so furchtbar verstört, dass dieser umgehend und mit polizeilicher Hilfe sein Eintrittsgeld zurückforderte.
Nun muss man wissen, dass Larry Ochs zum experimentierfreudigen ROVA Saxophone Quartet aus Los Angeles gehört, und sich auch mit seinen eigenen Projekten im
Grenzbereich zwischen Freier Improvisation, E-Musik-Avantgarde und Experiment bewegt. Und offenbar kann solche Musik immer noch verstörend wirken. „Immer noch“ meint dabei nach einer
fünfzigjährigen Geschichte von Free Jazz und Freier Improvisation, so denn Ornette Colemans „Free Jazz“ aus dem Jahr 1960 als der Anfang davon genommen werden kann.
Zur Beruhigung sei gesagt, dass auch immer noch Besucher entsetzt oder empört die Opern- und Konzerthäuser verlassen, wenn dort Werke von Alban Berg, Arnold
Schönberg oder Anton Webern auf dem Spielplan stehen, gar nicht zu reden von Komponisten wie Ligeti, Nono und Lachenmann – und viele dieser Werke sind noch um einiges älter als Colemans Fanal zur
Umwertung und Befreiung des Jazz. Das Neue hat es offenbar immer schwer, selbst wenn es eigentlich schon das Alte ist!
Auch im Jazz hat das Unverständnis, mit dem auf Neues reagiert wird, durchaus Tradition, deshalb sei hier als Beleg nur ein Zitat des Schlagzeugers Dave Tough
angeführt, eines Musikers übrigens, der anfänglich mit seiner Auffassung von Jazz in der Woody Herman Band ebenfalls auf Unverständnis gestoßen war. Hier beschreibt Tough seine erste Begegnung
mit dem Bebop in dem Harlemer Jazzclub Minton’s Playhouse: „Als wir in den Laden hereinkamen, nahmen die Burschen da drin ihre Hörner und bliesen verrücktes Zeug. Auf einmal hörte einer ganz
plötzlich auf, und ein anderer fing aus einem völlig unerfindlichen Grund an. Wir wussten nie, wann ein Solo anfing oder aufhörte. Schließlich hörten sie alle auf einmal auf und verschwanden vom
Podium. Wir waren ziemlich erschrocken.“
In ähnlicher Weise würde womöglich ein traditionell ausgerichteter Jazzmusiker heute noch eine Begegnung mit Free Jazz oder Freier Improvisation beschreiben,
wenngleich vielleicht das „Erschrecken“ nicht mehr so groß oder überhaupt nicht vorhanden wäre.
Vom Free Jazz und zur Freien Improvisation
Eines der Eckdaten bei der Entstehung des Free Jazz wurde mit der gleichnamigen Aufnahme des Ornette Coleman Oktetts am 21.12. 1960 bereits genannt. Colemans
Impetus, sich in ein neues Feld vorzuwagen, ist in seinem oft zitierten Ausspruch „Let's try to play the music and not the background” zu suchen, die die prominent besetzte
Achterformation zur Kollektivimprovisation von „Free Jazz“ veranlasste, die in einem einzigen Take und in einer Aufnahmesitzung entstand, zu der es wenig Vorbereitung gab und von der niemand
wusste, wie lange sie dauern würde. Es gab keine exakte Konzeption von Themen, Akkord-Patterns oder Chorus-Dauer im Vorhinein. Die Einleitung für jeden Solisten war lediglich ein kurzer
Ensemble-Part.
In den USA ging einher mit der Entstehung des Free Jazz die Gründung diverser Organisationen (JCG = Jazz Composers Guild, AACM = Association for the Advancement of
Creative Musicians, BAG = Black Artists Group ), die dazu dienen sollten, Auftrittsmöglichkeiten für das „new thing“ zu schaffen und besonders die Rechte schwarzer Musiker durchzusetzen (als ein
gleichzeitiger Prozess von globalem Jazzinteresse und zielgerichtetem schwarzem Selbstbewusstsein im Sinne von „black is beautiful“). Nahezu zeitgleich mit der Entwicklung in den USA ist auch in
Europa die Tendenz zu Musikereigenen gewerkschaftsähnlichen Institutionen (mit fast identischen Absichten) festzustellen. In Holland wird 1967 der Instant Composers Pool (ICP) gegründet, zu dem
Musiker wie Misha Mengelberg, Willem Breuker, Han Bennink und weitere gehören (aus dem auch das ICP Tentett hervorging als Formation auf der Basis der programmatischen Ideen). In Deutschland wird
1969 FMP (Free Music Production) als Kooperative und mit Musikereigenem Label gegründet (hier veröffentlichten Peter Brötzmann, Irène Schweizer, u.v.a.), das in der Folgezeit und bis heute zu
einem der entscheidenden europäischen Label der Produktion von Free Music wird, dabei aber durchaus auch US-Musiker (etwa Cecil Taylor) aufnimmt und vertreibt. Später als in den USA begann auch
in der Bundesrepublik die Selbstorganisation der Jazzmusiker, wobei gerade die Musikerinitiative Bremen MIB mit der Gründung im Jahr 1975 durchaus auch mit an der Spitze dieser Bewegung
stand.
Aber zurück ins Jahr 1968: Mit der Studentenbewegung ist in der Bundesrepublik Deutschland ein kurioser Verdrängungswettbewerb zu konstatieren: Rock (als Agit-Rock)
wird zunehmend interessanter, obwohl die Jazzmusiker inhaltlich der Studentenbewegung durchaus nahe stehen – dabei aber vielfach auch fehl interpretiert werden: Brötzmanns Aufnahme „Machine Gun“,
das auf eine Aussage Don Cherrys über Brötzmanns Spielweise zurückgeht, wird als politisches Credo missverstanden. Gleichwohl ist aber ein politischer Bezug zumindest in der musikalischen Absicht
erkennbar. Der Kontrabassist Peter Kowald, Beteiligter an der „Machine Gun“-Aufnahme, äußerte im Jahr 1972: „Da ging es hauptsächlich darum, die alten Werte wirklich kaputt zu brechen, das
heißt, alles an Harmonie und Melodie wegfallen zu lassen. Und das Resultat war nur deshalb nicht langweilig, weil mit so großer Intensität gespielt wurde[…].Die »Kaputtspiel-Zeit« hat eigentlich
erst alles, was musikalisch überhaupt möglich ist, gleichwertig spielbar gemacht. Heute ist zum ersten Mal klar, dass die meisten Amerikaner unserer Generation als musikalischer Einfluss
gestohlen bleiben können.“ Der Begriff des „Kaputtspielens“, von dem sich Kowald übrigens Jahre später distanziert, und ihn erheblich differenzierter analysiert hat, ist fatalerweise zum
Synonym für eine bestimmte Phase des Free Jazz geworden, die dem Aufbruch, den der europäische Jazz damit vollzog, in keiner Weise gerecht wird.
Einen genauen Schnittpunkt anzugeben, wann sich die Freie Improvisation vom Free Jazz geschieden hat, fällt schwer, zumal ohnehin von keiner grundsätzlichen
„Scheidung“ gesprochen werden kann. Als ungefähres Datum mag „Ende der siebziger Jahre“ hinreichen. Der Aktionismus des Free Jazz schien an ein Ende gekommen, selbst wenn Derek Bailey,
maßgeblicher britischer Improvisationsmusiker und Autor des grundlegenden Buches „Improvisation – Kunst ohne Werk“, in eben diesem Buch dem Free Jazz durchaus noch eine Chance einräumt, indem er
schreibt: „Doch es gibt auch Anzeichen, dass der Free Jazz immer noch renitent genug ist, um seine Domestizierung durch eine gleichgeschaltete, ihm von außen übergestülpte Ästhetik zu
verhindern.“
Nun setzte die Phase der Instrumentenerforschung ein, die intensive Suche nach Klangfarben, die Präparierung der Instrumente und ihre angelegentliche Dekonstruktion.
Zugleich ist Ende der siebziger Jahre und in den achtziger Jahren eine gewisse Aufsplitterung festzustellen: Es bestehen Kleinformationen, die weiterhin den Bereich „Klang, Geräusch, Energie“
erforschen, also im eigentlichen Sinne Free Jazz spielen, sich dabei aber immer weiter vom Jazz entfernen, wobei besonders in England die exemplarische Nutzung von elektronischen (Live
Electronic) und anderen extremen Möglichkeiten erprobt wird. Eine Großformation wie das Willem Breuker Kollektief arbeitet mit theatralischen Mitteln, baut Elemente von Zirkus und Show ein und
wildert dabei ungestüm durch alle, wirklich alle Stile. Willem Breuker begreift seine Musik bewusst als trivial, nennt sie „gemeine Musik“ und versteht sie als Alternative zum offiziellen
Kulturbetrieb. Zugleich werden Großformationen wie Alexander von Schlippenbachs Globe Unity Orchestra und ähnliche Free-Orchester wie die Manfred Schoof Big Band, Keith Tippetts Centipede oder
Barry Guys LJCO (London Jazz Composers Orchestra) reaktiviert.
Ein überraschender Umschwung erfolgte etwa in der Mitte der achtziger Jahre, als Gruppen wie das Maarten Altena Ensemble oder das Butch Morris Orchestra begannen,
komponierte Passagen mit solchen der Freien Improvisation zu kombinieren. Seitdem scheint in der Szene der „Freien Musik“, um den Begriff, den Derek Bailey am liebsten dafür wählt, aufzugreifen,
alles möglich. Alte Großformationen wie das Globe Unity Orchestra werden noch einmal reaktiviert, wobei sie das Publikum vielleicht nicht mehr so verstören, wie beim sagenumwobenen Auftritt mit
schwarzen Sonnenbrillen innerhalb der Berliner Jazztage 1966. Andererseits waren im Jahr 2009 beim Konzert des Barry Guy New Orchestra (im Prinzip ein neu formiertes LJCO) im Rahmen des
JazzFestes Berlin vernehmlich Pfiffe und Buhrufe zu hören: Ein wenig Verstörung bleibt also, und das ist gut so.
Christian Emigholz, im Juni 2010